Auszüge aus dem Buch "Pleiten, Sex und Rock'n'Roll". Viel Vergnügen beim Reinlesen.
… Beinahe schwerelos glitt ich über die zweispurige Landstraße. Gleiten ist eigentlich das falsche Wort, denn der alte, zerbeulte Mazda 323 ratterte wie ein Traktor mit abgesägtem Auspuff, der gerade einen schwer beladenen Heuwagen die Böschung hinaufschleppt. Aber in diesem Moment fühlte es sich an wie ein Gleiten, ganz ohne Ballast.
Erst eineinhalb Stunden zuvor war das Fieber aus meinem Körper entwichen wie Wasser aus einem umgestürzten Eimer. Nach Tagen mit Temperaturen zwischen neununddreißig und vierzigeinhalb Grad fühlte ich mich, als sei plötzlich jedes Gewicht von mir gefallen. Der Moment war magisch — eben, als würde ich schwerelos dahingleiten.
Nicht zum ersten Mal hatte mich dieses selbstgefällige Fieber befallen. Es kam immer ganz plötzlich. Kein anderes Symptom begleitete es, nur dieser steile Temperaturanstieg aus dem Nichts. Und ich lag flach, tagelang, meine Glieder bleischwer.
Die Mutter meiner Freundin hatte mir kalte Essigwickel für Hand- und Fußgelenke empfohlen. Ein paar Minuten, nachdem ich Marion vom Telefongespräch berichtet hatte, klatschte sie mir mit grimmiger Miene heiße Tücher um meine Extremitäten. Die Rolle der Krankenpflegerin war nicht ihr Ding. Geduld gehörte nicht zu ihren Stärken. Und wie das Wort Patient schon sagt, sollte man jemandem, der angeschlagen ist, genau diese entgegenbringen.
»Ähm, die müssen kalt sein, hat deine Mutter gesagt«, wandte ich eingeschüchtert ein.
»Ach Quatsch. Du hast Fieber, und da soll ich Dir was Kaltes umwickeln?«, erwiderte sie unwirsch.
Nachdem sie die Umschläge bereits zum dritten Mal erneuert hatte, fühlte sich mein Gehirn an, als würde es in einem Wäschetrockner umherpurzeln. Der einzige klare Gedanke, der das Delirium durchbrach, war der an das Thermometer. Trotz der Fesseln an den Gelenken nahm ich es vom Nachttischchen und klemmte es mir mit letzter Kraft unter eine Achsel.
»Marion… Marion«, rief ich mit brüchiger Stimme.
»Na, was ist denn jetzt schon wieder!«, antwortete ihr Umriss, der kurz darauf unter dem Türbogen des Schlafzimmers erschien.
Ich hielt ihr den Fiebermesser entgegen, der vierzigeinhalb Grad anzeigte.
»Fast ein Grad mehr. Ich glaube, die Umschläge müssen wirklich kalt sein.«
Mit dem Gesicht bleicher als jenes einer Meissner Porzellanfigur riss sie mir die Tücher von den Gliedern, stampfte mit ihnen hinaus und blieb erst mal verschwunden. Schließlich kehrte sie mit kalten Wickeln zurück, die sie mir wortlos anlegte.
Die Korrektur drückte die Temperatur auf etwa 39 Grad runter. Und nun, drei Tage später, war ich, noch immer etwas schwach, aber ohne Fieber, unterwegs zu meinem Arzttermin.
Durch die dünnen Nebelschwaden im novemberkalten Morgengrauen bemerkte ich in der Ferne vier Scheinwerfer auf gleicher Höhe.
Sieht aus, als würde da jemand in einer Rechtskurve überholen, dachte ich.
Die Straße bahnte sich ihren Weg in weiten Windungen am Fuße einer niedrigen Hügelkette entlang. Links erhoben sich Hänge, die mit ausgetrocknetem Gras bewachsen waren. Rechts dehnten sich, nach einer Böschung, riesige Felder aus, die wohl nur wenige Tage zuvor gepflügt worden waren. Ich fuhr mit etwas mehr als achtzig Stundenkilometern.
Ich fragte mich, was ich wohl tun würde, wenn mir in einer der nächsten Linkskurven plötzlich ein Wagen auf meiner Fahrspur entgegenrast käme.
Links einschlagen? Ne, da kann ich mir gleich den Sarg bestellen. Eine Frontalkollision mit dem, der gerade überholt wird, wäre garantiert.
Ich nahm den rechten Straßenrand, die Böschung und den weiten Acker dahinter in Augenschein. Das Lenkrad nach rechts rumreißen und über den Abgrund segeln. Das wäre die einzige Rettung, dachte ich. Der Mazda wäre zwar Schrott, aber vielleicht käme ich mit dem Leben davon.
Mit einer tiefen inneren Ruhe, wie ich sie selten gespürt hatte, wandte ich meinen Blick, zur kommenden Linkskurve.
Dann plötzlich blitzte es vor mir auf. Für den Bruchteil einer Sekunde sah ich nur noch gleißendes Weiß. Im nächsten Moment wurde ich durchgeschüttelt, als hätte man mich in einem Fass einen schroffen Felshang hinuntergeschmissen. Der Schreck betäubte meine Sinne. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit fand ich wieder zu mir. Ich saß mit starr ausgestreckten Armen da. Meine Hände umklammerten krampfhaft das Lenkrad. Mein Herz raste. Ich spürte sein Pochen bis hinter meine Augen. Der Wagen stand im Acker, der Motor war abgewürgt und die Elektrik wurde von der Batterie gespeist.
Allmählich löste sich die enorme Spannung, mit der ich mich in die Rückenlehne des Fahrersitzes drückte.
Ich war verwirrt. Ich hatte keine Ahnung, wie ich hier gelandet war. Ich dachte nur, ich müsse die Batterie schonen. Wie in Zeitlupe drehte ich die Zündung ab und machte die Lichter aus. Meine Arme schmerzten vor Erschöpfung. Ich legte sie an meinen Oberkörper, die Hände in den Schoß und blieb regungslos, aber mit gehetztem Atem, sitzen.
Verschwommene Bilder kamen in mir hoch. Irgendwas, ein großer Klotz, etwas Undefinierbares, war plötzlich vor meinem Wagen aufgetaucht. Keine Form, nicht mal eine Farbe konnte ich dem Ding zuordnen.
Wie benebelt stieg ich aus dem Auto. Der Boden war gefroren und mein Atem bildete Dampfwölkchen.
Bin ich etwa dem Wagen ausgewichen, den ich von weitem gesehen hatte? Oder war es ein anderes Fahrzeug? Habe ich vielleicht nur geträumt? Bin ich etwa meinem eigenen Gedankenspielchen auf den Leim gekrochen?
Je mehr Zeit verging, desto sicherer wurde ich, dass mir mein Kopf einen Streich gespielt hatte. Ich gelangte zur festen Überzeugung, ich hätte mich ohne jeden Grund von der Straße katapultiert.
Ich setzte mich zurück in den Wagen und ließ den Motor anspringen. Der lief tadellos, doch als ich Gas gab, wollte das Ding nicht vom Fleck kommen. Ich stieg erneut aus und kontrollierte diesmal, ob das Fahrgestell auf einer Unebenheit aufsaß. Als ich aufschaute, hielt ein Fahrzeug auf der Landstraße, auf der ich vor kurzem noch gefahren war. Hastig stieg ein etwa fünfzigjähriger Mann aus.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, rief er mir von weitem zu, während er die Böschung heruntergestolpert kam.
»Ich glaube schon«, erwiderte ich.
Er eilte mir entgegen. »Mann. Hier ging es um Millimeter, sag ich ihnen. Dass der Irrsinnige nicht in Sie reingekracht ist, grenzt an ein Wunder. Ich hatte einen Hunderter drauf, als der Spinner mich überholt hat. Der war bestimmt mit hundertdreißig Sachen unterwegs. Ich will mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn’s geknallt hätte. Wir alle wären in Leichensäcken weggeschafft worden«, erklärte er mir keuchend. »Ich habe mich an ihn ran gehängt, um das Kennzeichen zu notieren. Der ist gerast, als wäre die Mafia hinter ihm her.«
Der freundliche Herr kam mir vor wie ein Engel. Ich war also doch nicht übergeschnappt. Beruhigend. Der Mann steckte mir seine Notizen über den Kamikaze-Raser zu, schrieb mir seine Adresse auf und stellte sich für ein mögliches Gerichtsverfahren als Zeuge zur Verfügung.
Der uneinsichtige Beinahe-Selbstmordattentäter wurde mit einem einjährigen Führerscheinentzug bestraft. Die Zahlung für den Schaden am Wagen und die Bergungskosten, zu denen er zusätzlich verurteilt wurde, hat er nie geleistet. Glücklicherweise hatte mein rostiger Mazda un-seren Flugversuch einigermaßen unbeschadet überstanden. Nur eine Kerbe in der vorderen Stoßstange war als kleines Souvenir zurückgeblieben. Sie stammte von dem Pfosten, den ich auf der Abflugrampe wegrasiert hatte.
Damals war ich überglücklich gewesen, den Unfall überlebt zu haben. Und heute…? Nichts wünsche ich mir sehnlicher herbei als den Tod. …
… Der Summton wiederholte sich schon zum zehnten Mal. Bereits am Vorabend hatte ich mehrmals versucht, meine Mutter zu erreichen — sogar bis spät in die Nacht hinein, aber ohne Erfolg. Am folgenden Tag hatte ich es noch rund ein Dutzend Mal probiert.
Meine Mutter war verrückt nach dem Telefon. Sobald es klingelte, rannte sie. Es war ihr Draht zur Außenwelt, ein sporadisch aufflackernder Lichtstrahl, der ihr trübes, freudloses Dasein für kurze Momente erhellte. Nicht ranzugehen war nicht ihre Art. Entweder sie war nicht zu Hause, was über diesen langen Zeitraum hinweg auszuschließen war, oder das Telefon war defekt. Oder sie war nicht in der Lage abzuheben. Ich tippte auf Letzteres.
Es war gegen neunzehn Uhr, als sich die Türe des Fahrstuhls im dreizehnten Stock öffnete. Aus der Ferne hörte ich das Trällern eines älteren französischen Chansons, das eines der Lieblingslieder meiner Mutter war. Je näher ich ihrer Wohnung kam, desto lauter wurde die Musik. Als ich vor ihrem Eingang stand, war der Lärm unerträglich. Ich drückte den Klingelknopf und klopfte an die Tür — keine Reaktion. Über längere Zeit hinweg versuchte ich, Mutters Aufmerksamkeit zu erregen, aber ohne Erfolg. Nach etlichen Versuchen öffnete sich die Tür nebenan und eine ältere, füllige Dame trat in den Flur. Ihr griesgrämiges, aufgedunsenes Gesicht war gerahmt von krausem, grauem, fein säuberlich hergerichtetem Haar. Sie trug einen anthrazitfarbenen halblangen Mantel und eine dunkle, königsblaue Handtasche. Schwerfällig keuchend wandte sie sich zurück zur Türe und verriegelte diese. Sie drehte sich in meine Richtung, machte drei Schritte auf mich zu, blieb an meiner Seite stehen und schaute zu mir hoch.
»Das geht nun schon den ganzen Tag so«, sagte sie mit kurzem, verächtlichem Blick zum Eingang, vor dem ich stand. »Und gestern … bis tief in die Nacht.«, sie schüttelte den Kopf. »Das ist doch einfach unfassbar, nicht auszuhalten. Bei der piept's wohl?«
Sie senkte den Blick, nahm einen Bogen um mich herum, wankte wie ein Pinguin dem Fahrstuhl entgegen und murmelte unverständliches Zeug vor sich hin.
Durch die Wohnungstür hindurch hörte ich, wie das Lied gerade ausblendete. Das war die Gelegenheit. Ich traktierte den Klingelknopf und prügelte gleichzeitig mit der anderen, zur Faust geballten Hand auf die Tür ein. Die Musik war verstummt. Als ich das Klopfen kurz unterbrach, hörte ich das vertraute Signal der Hausglocke — die absteigende Terz — nachklingen. Ich wollte gleich wieder loslegen, da regte sich das Schloss und die Türe öffnete sich.
Mit der Falle in einer Hand und mit verklärtem Blick stand meine Mutter in der weit geöffneten Türe. Sie trug ein weißes, loses, an die Hippiezeit erinnerndes Kleid, das bis knapp über ihre nackten Füße reichte. Es wies glockenförmige Ärmel auf, die sich nach hinten zu Zipfeln formten, wie man es sich bei Druidengewändern vorstellen könnte. Ihr schütteres Haar hing geordnet in gleichmäßigen Strähnen an ihr herunter und verdeckte teilweise ihr Gesicht.
»Bonjour..., qui êtes vous? (Guten Tag …, wer sind sie?)«, fragte sie mit verzückter Stimme. Ein unwirkliches Freudestrahlen lag auf ihrem Gesicht.
Ich war baff. Meine Mutter war auch an ihren besten Tagen nicht der Typ, der Witze machte und schon gar nicht solche.
»Moi, je suis la déesse de dieux. Et qui êtes vous? Ahh, vous devez être un ange. (Ich, ich bin die Göttin der Götter. Und, wer sind Sie? Ach, Sie müssen wohl ein Engel sein.)«, fuhr sie fort, bevor ich Worte fand.
»Maman? Was? Ich verstehe nicht … Ich bin’s, André, Dein Sohn.«
»Sie müssen wohl ein Engel sein, ein Engel voller Güte.«
»Ich bin kein Engel, ich bin’s, dein Sohn, André. Was ist denn mit dir los, um Himmels Willen?«
»Ich bin die Göttin der Götter.«
»Maman, was soll das?«
»Seien Sie willkommen.«
»Weshalb hast du denn das Telefon gestern und heute nicht abgenommen?«
» Ich freue mich ja so über Ihr Erscheinen. Ich bin die Göttin der Götter.«
Sie wandte sich ab, und ohne sich weiter um mich zu scheren, schwebte sie ins Wohnzimmer. Ich warf die Eingangstür hinter mir ins Schloss und folgte ihr. Sie steuerte auf den Plattenspieler zu, der jahrelang unbenutzt auf einer Kommode aus den sechziger Jahren gestanden und schon reichlich Patina angesammelt hatte. Sie wendete das Vinyl und legte tapsig den Tonarm auf die Einlaufrille. Nach anfänglichem Kratzen und Knistern ertönte ein weiteres Chanson aus Mutters Hitliste. Salvatore Adamos Une Larme Aux Nuages schleimte in ohrenbetäubender Lautstärke durch die Boxen und meine Mutter begann damit, sich ungelenk und rhythmisch deplatziert zu den Klängen zu recken und winden. ….
... Obschon ich die Wochen mit Simone genossen hatte, war ich ganz froh, als sie wieder abreiste. Ich hatte sie soeben beim Eingang zum Transitbereich verabschiedet und schlenderte, noch im Flughafen, an einem Kiosk vorbei. Aus einem daran angebrachten Werbeleuchtkasten brüllte mich eine Schlagzeile aus meiner Lethargie.
DIE DROGE SEX! WENN SEX STATT ZUM GENUSS ZUM SUCHTMITTEL WIRD!, stand da in großen Lettern.
Ich schlängelte mich an einigen Leuten vorbei und tat so, als stöbere ich ziellos in der Auslage des Zeitungsstandes herum. Schließlich gelangte ich zum Erotik-Magazin, in dem der Bericht stand. Ich traute mich nicht mal, darin zu blättern. Stattdessen schob ich es unauffällig in eine Tageszeitung, die ich von einem Stapel gleich neben der Kasse nahm. Ich öffnete die Zeitung so, dass die Kassiererin die Illustrierte darin hatte erkennen können.
»Die zwei bitte«, sagte ich.
Auf diese Weise wollte ich die beiden Titel diskret bezahlen. Ohne Erfolg. Die Verkäuferin zupfte die Zeitschrift aus dem Journal.
»Das sind eins fünfzig fürs Tagblatt und acht Franken für den Playboy«, brüllte sie über den Tresen, so dass es der ganze Flughafen hören konnte, und klatschte das Magazin mit einem hämischen Grinsen auf die Zeitung. Ich wurde knallrot, legte einen Zehner in ihre Hand und machte mich davon. Noch bevor ich außer Sichtweite war, tönte es lautstark von hinten: »Hey, Sie da, Sie mit dem Playboy, Sie haben ihr Wechselgeld vergessen!«
Zähneknirschend und im Rampenlicht aller Anwesenden ging ich zurück und holte mir das Fünfzigrappenstück ab. Jetzt wusste es die ganze Stadt. …
... Unter dieser enormen Belastung igelte ich mich auch gegenüber Soraya ein. Ich war nicht mehr imstande, ihr richtig zuzuhören oder ihre emotionale Verfassung wahrzunehmen. Wenn ihr Vertrauen bereits vor den geschäftlichen Turbulenzen schwer gelitten hatte, so wirkte meine aktuelle Methode der Stressbewältigung wie ein Brandbeschleuniger, ein Sterbehelfer für die Restvitalität unserer Beziehung. Gleichzeitig begann bei ihr das Thema Treue stark an Bedeutung zu gewinnen.
»Wo warst du so lange?«, fragte sie, als ich an einem Abend nach zweiundzwanzig Uhr von einem Arbeitsessen mit Rainer nach Hause gekommen war.
»Ich habe dich heute beim Stadelhofen mit einer Frau gesehen«, sagte sie zu einem anderen Anlass. »Ich hätte schwören können, ihr hättet was zusammen. «
»André, bist du mir treu?«, stellte sie mich zwei Tage später zur Rede.
Auf solche Fragen antwortete ich prinzipiell nie, bis zu jenem regnerischen Sonntagnachmittag im September.
Wir waren zuhause. Soraya saß auf dem schwarzen Sofa und las ein Buch, während ich mir auf dem dazu passenden Fauteuil Notizen für den bevorstehenden Arbeitstag machte.
»Ich brauche Gewissheit«, sagte sie plötzlich und schaute vom Text auf. »Ich muss wissen, dass du zu mir stehst, dass keine anderen Frauen in deinem Leben existieren.«
Ich sah ihr in die Augen. »Du weißt, dass ich auf solche Dinge nicht antworte.«
»Weshalb kannst du dich denn nicht wie jeder normale Mensch auf eine Person festlegen?«
»Ich habe mich ja festgelegt — auf dich«, antwortete ich gereizt.
»Und warum kannst du dann nichts versprechen, wie du immer sagst?«
»Du willst also Zugeständnisse von mir, die ich dir nicht mit gutem Gewissen machen kann. Habe ich dich richtig verstanden?«
»Nein, ich will, dass du dich festlegst. Ich will von dir wissen, dass du dich für mich entschieden hast. Und dir nicht immer ein Türchen offen hältst, damit du mir nach einer Eskapade erklären kannst, dass du mir ja die Treue nie versprochen hast. Verstehst du das?«
»Das kann ich einfach nicht. Weißt du, wie oft ich schon Trauungszeremonien beigewohnt habe, bei denen die Eheleute Treue schworen, bis der Tod sie scheidet? Und weißt du, wie viele von ihnen noch putzmunter sind und entweder bereits in anderen Beziehungen leben oder das Gelübde bei Seitensprüngen gebrochen haben? Nein, so ein Schwur kommt für mich einem Verrat gleich. Ich kann beim besten Willen einen Bruch der Treue nicht hundertprozentig ausschließen, so sehr ich mir das auch wünsche.«
Soraya schaute mir scharf in die Augen, dann vertiefte sie sich wieder in ihre Lektüre.
Am darauffolgenden Samstag hatte ich mit ihr ausgemacht, sie nachmittags abzuholen. Sie leitete einen Tanzworkshop in ihrem neuen Atelier im Stadtzentrum. Ich traf viel zu früh ein und wartete im vereinbarten Café.
Bei einem Latte Macchiato und einer unwiderstehlichen Millefeuille überarbeitete ich meine Notizen zum bevorstehenden Werbegroßversand. Es musste alles sitzen. Jedes Wort musste perfekt gewählt sein. Es ging ums nackte Überleben.
Wir brauchen noch ein paar Fotos, dachte ich. Hier vielleicht ein Bild von einem Bandworkshop, da eines vom vollbesetzten Informatik-Raum und hier unten rechts der Schnappschuss vom Robben-Ford-Gig im Club. Das Konzert war gerammelt voll.
Ein »Hallo André!« und ein Klacken, gefolgt von einem Scheppern, rissen mich aus meinen Gedanken. Ich hob den Blick. Bernadette, eine ehemalige Schülerin hatte sich lautstark zu mir gesetzt.
»Als ich dich gesehen habe, musste ich unbedingt an deinen Tisch umziehen«, sagte sie.
Ihren Kaffee hatte sie gleich mitgebracht. Das Wackeln des Löffels im Unterteller, der zuvor das Scheppern verursacht hatte, legte sich gerade.
»Schon lange nicht mehr gesehen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich mich ein paar Minuten zu dir setze. Wir waren ja auch schon näher beieinander«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln.
»Aahm …, Nee … Meine Freundin sollte in ein paar Minuten hier sein. Aber nein, ist schon ok. Ja, schon lange her.«
Sie streifte sich eine Strähne ihres langen, rötlich-blonden Haares aus dem Gesicht und legte dadurch die schwachen Sommersprossen in ihrem zarten Gesicht frei.
Ein Engelsgesicht, dachte ich gleich. Und immer noch rotzfrech, wie früher.
Schon blitzten Bilder von damals in mir auf. Wie ich sie auf die fast brusthohe Empfangstheke in den alten Räumlichkeiten der Schule gehoben hatte. Wie wir uns gegenseitig die Kleider vom Leibe gerissen hatten. Sie beugte sich vornüber, küsste mich ungestüm auf den Mund, führte mein Gesicht zu ihren straffen Brüsten, dann schob sie mich zwischen ihre Schenkel, bis sie euphorisch stöhnte. Nach dem satten Orgasmus strich sie ihr dichtes, gelocktes Haar in jener aufreizenden Art zur Seite, wie nur sie es verstand, und legte ihr zartes Gesicht frei.
»Du hast ein Engelsgesicht«, sagte ich damals. »Und wunderhübsche Sommersprossen.« Und schon ging es in die nächste Runde.
Fix und fertig setzten wir uns nach einem weiteren Orgasmus auf einen Stuhl, sie auf meinen Schenkeln, und wir erholten uns etwas, bevor wir uns ganz gesittet und scheinheilig ankleideten und an unsere Musikinstrumente machten. Nun saß sie mir nach all den Jahren wieder gegenüber.
Bernadette fixierte mich und führte sich den Löffel mit Milchschaum an ihre ungeschminkten, vollen Lippen. Ihr schelmisches Lächeln ließ die strahlend weißen Zähne hindurchscheinen. Sie hätte bestimmt ein erfolgreiches Modell für Zahncreme-Werbung abgegeben.
Ihre grau-blauen Augen waren punkig mit breitem, schwarzem Eyeliner umrandet und ihre Brauen standen dem in puncto Verruchtheit in nichts nach. Ihren zierlichen Oberkörper hatte sie in ein dunkelbeiges, ausgetragenes Opa-Unterhemd gehüllt, das man zum Hals hin mit drei Knöpfen hätte verschließen können. Sie bevorzugte es freizügiger, und erlaubte den Einblick auf die Ansätze ihrer Brüste. Darüber trug sie eine verwaschene grüne Damenjeansjacke. Sie hatte sich in eine löchrige und verwaschene Jeans in Anthrazitfarbe gezwängt und ihre Füße steckten in massiven, knöchelhohen, schwarzen Doc Martens, die auf Hochglanz poliert waren. Extremer hätte sie den Kontrast zu ihrem Engelsgesicht nicht herausstreichen können.
Ich fragte mich, wie und warum wir uns eigentlich getrennt hatten. Ich konnte mich nicht mehr erinnern. Dafür schossen mir umso mehr gemeinsame Sexszenen durch den Kopf und ich rief mir den Anblick ihrer Muschi ins Gedächtnis zurück, die sie damals stets kahl rasiert hatte.
Im Gespräch erinnerten wir uns an Ereignisse aus unserer gemeinsamen Zeit. Einige nicht jugendfreie Geschichten zwangen uns, die Köpfe zusammenzustecken. Schon in wenigen Minuten hatte sich wieder eine tiefe Vertrautheit entwickelt und ich fragte mich, weshalb ich damals nicht alles darangesetzt hatte, mit ihr zusammenzubleiben.
Schließlich notierte sie ihre Telefonnummer auf einen Zettel, den sie anschließend zwei Mal faltete und mir in die Hand drückte.
»Wir könnten ja mal wieder was unternehmen.«
Dann klaubte sie einen winzigen Spiegel und einen Lippenstift aus einer Brusttasche und rieb damit ihre Lippen ein, bis sie glänzend pink leuchteten.
Bernadette erhob sich und schaute mit einem seltsamen Gesichtsausdruck durch das weite Fenster hinter mir. Sekunden später entspannte sie sich wieder und blickte mir in die Augen.
»So, ich muss abhauen!«
Sie schalte die Hände um mein Gesicht und drückte mir zum Abschied einen herzhaften Kuss auf den Mund. Dann machte sie rechts und kehrt, polterte lautstark mit ihren Doc Martens quer durch den Raum und verschwand durch den Seitenausgang am anderen Ende des Lokals.
Einen Augenblick später stand Soraya vor mir. Ihr Gesicht war tränenüberströmt und sie rang um Fassung.
»Hey. Ist alles ok?«, fragte ich. »Bist früher dran, als erwartet.«
Sie setzte sich wortlos, zupfte eine Papierserviette aus dem Spender, tupfte ihre Augengegend trocken und versuchte dabei zu vermeiden, dass die Schminke noch mehr Unheil auf ihrem Gesicht anrichtete. Anschließend putzte sie ihre Nase, stopfte die Serviette in Bernadettes Kaffeetasse und schob das Geschirr verächtlich von sich weg.
»Die Kursteilnehmerinnen zogen es vor, heute früher nach Hause zu gehen. Dafür werden wir nächste Woche länger in der Gruppe arbeiten«, sagte sie, wobei sie sich zu einem Lächeln zwang.
»Und woher die Tränen?«
»Ach lass nur, ist nicht so wichtig.«
»Nur wichtige Dinge rufen Tränen hervor. Was war denn?«.
»Ach, nichts«, insistierte sie süffisant und schien dabei im luftleerem Raum nach einer Eingebung für eine Notlüge zu suchen. »Eine Schülerin hat einen Kommentar gemacht, der mich gekränkt hat.«
»Worum ging es denn?«
Soraya drehte sich nach der Kellnerin um.
»Haben sie Orangenblüten-Tee?«
»Nein, aber einen richtig feinen Zitronengras-mit-Ingwer-Tee.«
»Das tönt gut, bringen sie mir bitte so einen.«
Soraya kramte einige Papiere aus ihrer schwarzen Ledertasche und hob den Blick zu mir. Sie fokussierte meinen Mund für wenige Momente.
»Ich muss das noch durchsehen«, erklärte sie. »Die wollen bis Montag früh eine Antwort.«
Sie hängte die Ledertasche an ihre Stuhllehne und vertiefte sich in den Text.
»Soraya, du hast geweint. Wegen der Kritik einer Schülerin? Was ist los?«
Als sie meinen Mund wieder fixierte, hatte sie Tränen in den Augen.
»Von wem ist dieser Lippenstift an deinem Mund? Und darf ich den Zettel sehen, den du da hältst?«
Sie griff nach dem Stück Papier von Bernadette, das ich noch immer in der Hand hielt, und noch bevor ich reagieren konnte, hatte sie es aufgefaltet. Ich rieb den Handrücken über meinen Mund und schaute verdutzt auf die pinke Verfärbung an meinem Handgelenk.
»Bernadette heißt sie also«, sagte Soraya mit künstlich kontrollierter Stimme und reichte mir den Zettel wieder.…
Comments